»Niedliche Pflanze, du kleidest der alten Ruine Gemäuer, rankend hinab und hinauf blühest du einsam für dich. Sey der Erinnerung Bild, die, der Einsamkeit traute Genossin, oft des vergangenen Glücks sinkendes Luftschloss, umgrünt.«
So schreibt Ludwig Bechstein in dem Gedichtzyklus »Die Blumen und das Leben«. Wahrlich, das romantische Mauerblümchen lädt zum Träumen ein. Während ich an der antiken Stadtmauer entlang spaziere, blühen meine Gedanken rankend auf und blicken über die steinerne Grenze hinweg in andere Welten. Ich sinniere über die Symbolik einer Mauer. Ist sie freiheitsraubende Abgrenzung oder freiwilliger Schutz? Ist sie unüberwindbare Hürde oder einladende Herausforderung?
Und welche Mission hat das Zimbelkraut zu erfüllen? Will es uns zeigen, dass in der Ruhe die Kraft liegt, Bescheidenheit eine Tugend ist und Kreativität die Überlebenschance erhöht? Oder lehrt es uns, jene Steine, die uns in den Weg gelegt werden, freudvoll zu verzieren und mit verspielter Leichtigkeit zu überwinden?
Die heutigen Zeilen widme ich dem wohl einzig wahren Mauerblümchen: dem Zimbelkraut (Cymbalaria muralis), welches derzeit nackte Felsen, alte Ruinen und Steingemäuer mit seinen hellvioletten, zygomorphen Blüten schmückt.
Das ausdauernde krautige Wegerichgewächs gehört zu den überzeugten Maskenträgern. Mit leuchtendgelber Blütenbemalung täuscht es große Staubbeutel vor, um damit nur kräftige Insekten anzulocken. Die Kraftblume blüht von April bis September und fühlt sich an halbschattigen bis sonnigen, feuchtwarmen Standorten am wohlsten. Dies ist nicht verwunderlich, stammt sie doch ursprünglich aus dem Mittelmeerraum. Im 16. Jhdt. als Zierpflanze in unsere Gärten geholt, ist sie im Laufe der Zeit über die Gartenzäune hinausgewachsen, um idealere Wohnorte zu erobern.
Der etablierte Neophyt ist ein wahrer Survivalkünstler: Während die meisten seiner Samen freigesetzt werden, bleibt einer mit der Frucht fest verbunden. Der Fruchtstiel wächst mit diesem Samen entgegen dem Sonnenlicht – hinein in die dunkle Mauerritze, wo ein perfektes Keimbett wartet.
Doch die zierliche Mauerschönheit hat nicht nur äußerlich viel zu bieten – auch ihre inneren Werte sind beeindruckend: immunstärkendes Vitamin C, gesundheitsfördernde Bitterstoffe, antibakterielle Iridoide und entzündungshemmende Tannine. Ein fast vergessenes Heilkraut – nützlich bei Wundheilung, Entzündungen und frauentypischen Beschwerden. Und als wäre das nicht genug, entpuppt sich das unscheinbare Pflänzchen auch noch als nach Kresse schmeckendes Wildgemüse.
In diesem Sinne: ein Hoch auf alle Mauerblümchen, die unsere Erde mit äußerer Bescheidenheit und innerem Reichtum beschenken. Danke, dass es euch gibt!
Sandra
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