20. Juli 2023

ACHTUNG! WEITERLESEN AUF EIGENE GEFAHR!

Du liest trotz Warnung weiter als bis zum Ende des Titels? Wie erfreulich und wagemutig gleichermaßen! Einige von euch wollen sich die Story hinter dem Locktitel wohl nicht entgehen lassen. Die Neugierde ist halt schon ein übermütiges, risikoliebendes  Laster. Oder vielleicht auch ein neuewelteneröffnender Segen. Erschließt uns doch manchmal das selbstbestimmte Übertreten von fremdgesetzten Warnungen und Grenzen herzerwärmend-berührende Begegnungen auf unseren Lebenswegen. So auch Wilfried und mir! Wer auch immer die Planung unseres gemeinsamen Lebensweges zu verantworten hat, wir sagen hiermit DANKE!

Unsere 40-stündige!!! Anreise in den mittelschwedischen Rogen Nationalpark im Juni dieses Jahres begann bereits in der ersten Etappe mit zwei aufregenden floralen Reisebekanntschaften, die – wenngleich sie sich im äußeren Erscheinungsbild wie auch in der Zusammensetzung der inneren Werte markant unterscheiden –  viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Beide sind einem Großteil der Menschheit wohlbekannt. Beide haben spannende Geschichte geschrieben. Beide haben genau deshalb keinen besonders guten Ruf. Beide werden als BEDROHLICH und BÖSE eingestuft. Beide gehören zur botanischen Familie der gefürchteten – weil sich oft sehr ähnelnden – Doldenblütler (Apiacaeae).  Beide ziert in Pflanzenportäts das Totenschädel-Symbol oder zumindest der Hinweis: SEHR GIFTIG!

Was die beiden unterscheidet? Während die Eine ihr todbringendes Alkaloid Coniin in eine unscheinbare, völlig unauffällige Form verpackt und sich lediglich durch einen rotgefleckten Stängel und ihren nach Mäusepisse duftenden Ausdünstungen verrät, protzt die Andere mit ihrer imposanten platzeinnehmenden Gestalt und ihrem furanocumarinhaltigen Lebenssaft, der auf unserer Haut in Verbindung mit Sonnenlicht seine branntmarkenten Talente entfaltet.

Das Spannende an der Sache ist, dass wir kurz nach unserer Heldenreise in den kühlen Norden ein Doldenblütler-Seminar angesetzt hatten, bei dem wir den Teilnehmern undbedingt genau diese zwei gemütserhitzenden Giftpflanzen leibhaftig präsentieren wollten. Tja, und es hat sich wiedermal bestätigt: Wenn mensch sich etwas intensiv genug wünscht, funktioniert das Lebensgesetz der Resonanz meist sehr verlässlich. Todesmutig haben wir das uns zugefallene Pflanzenangebot angenommen, unsichtbare Grenzen (mit Erlaubnis der Pflanzen) überschritten, alle dämonisierenden Warnungen  über Bord geworfen und sind dem Gefleckten Schierling (Conium maculatum) und dem Riesen-Bärenklau (Heracleum mantegazzianum) ganz nah gekommen, um sie zu bitten, mit uns nach Hause zu reisen. Die Schierlingsdame durfte als komplettes Exemplar mit. Bei der Grande madame bot sich indes lediglich ein “kleines” Blatt an, um unser Herbarium zu erweitern. Gepresst wurde, falls wem die Frage auf der Zunge liegt, mit viiiiiel Papier und zwei Tischplatten.

Doch beginnen wir von vorne: Wir waren gerade auf der Autobahn Richtung Engerda in Mittel-Deutschland in Höhe Regensburg unterwegs, als ein einziges Wort des Botanikers meines Vertrauens in mein pflanzensensibles Ohr drang: “Schierling!!!” Mein Blick folgte dem seinen zum Mittelstreifen und vergaß just auf´s Zwinkern. Was? Der sogenannte “Wüterich”, der einen antiken Philosophen namens Sokrates  hinrichtend in die Anderswelt entführte, soll einfach so ganz nebenbei am Straßenrand wuchern? Nicht zu fassen. Ich war hin und weg! Bin ich doch dieser ausdrucksfeinen Pflanzenseele noch nie hier bei uns begegnet. Und nun zogen aus heiterem Himmel 1000e Exemplare mit schierlingshaften 100 km/h an mir vorüber. Oder ich an ihnen? Egal. Das Gift wirkte wohl schon. Ich war wie von Sinnen! Wie sehnte ich in diesem einzigartigen Moment einen Stau herbei. Doch dieser Wunsch wurde nicht erfüllt, weil das Leben halt doch nicht immer ein Wunschkonzert ist.  Und das ist sicher gut so. Eine spontane Schierlingsernte auf der Autobahn wäre der Gesundheit eventuell nicht zuträglich und sollte tunlichst vermieden werden. Doch der Plan auf der Rückfahrt bei einer Raststätte einen Gefleckten Schierling zu finden und ihn zu bitten, mit uns zu kommen, war an dieser Stelle besiegelt.

Müde von der langen Autofahrt endlich in der knapp 350-Seelengemeinde Engerda angekommen, wollten wir zwecks Erfrischung in einen kleinen Teich hüpfen. Der Weg ins kühle Nass führte über ein Feld zu einem kleinen Wäldchen. Und genau hier traf mich der giftgrüne Blitz. Ich stand an der Schwelle zwischen Feld und Wald und wurde durch das Erschaute ganzkörperelektrisiert. Mit offenem Munde stand ich da, atmungs- und bewegungsunfähig mit pochendem Herzen. Das konnte jetzt doch nur eine Fata Morgana oder ein Traum sein. Die imposantgeformten Blätter der eingewanderten Herkulesstaude, des breitverachteten Riesen-Bärenklaus, des Heracleum mantegazzianum, des meistgehassten aller Neophyten, der Rache Stalin´s, wie er anderswo geschimpft wird, ergriffen mein ganzes Sein. Meine Riesenfreude glich der eines jungen Mädchens, das plötzlich unerwarteterweise ihrem angebetenen Schwarm gegenübersteht. Ich war so aufgeregt erregt, so geflasht, so voller Schmetterlinge, dass ich wie gelähmt (nein, dies waren keine Nachwirkungen von meiner Schierlingssichtung) dastand und mich erstmal einsammeln und neu sortieren musste. Mir war klar, wenn ich einen Schritt weiter in den Wald eintrat, war das der Eintritt in ein heiliges Stück Land. Der Weg wurde zur rechten und zur linken Seite von einer (zumindest für mein System) heilsam wirkenden Pflanze gesäumt. Atemberaubend! Sinneberührend und säftebewegend bis in die Mitochondrien meiner Zellen hinein. An dieser Stelle wäre ich das zweite Mal in eine Zwangsjacke gesteckt worden, hätte wer Unrechter meine befremdliche Überreaktion beobachtet.

Die Pflanzennerds unter euch verstehen meine positive Resonanz auf diese äußerst reaktive Zeitgenössin sehr genau. So, wie sie bei Hautkontakt mit ihrem Pflanzensaft verbrennungsähnliche Spuren hinterlassen kann, so kann sie auch auf unsere Seele wirken. Doch ohne zu verletzen, sondern lediglich um zu insprieren. Mit ihrer augenscheinlichen Präsenz auf Erden weckt sie auch die unsrige. Sie entfacht neues Lebensfeuer, welches wir so dringend benötigen, um für etwas zu brennen. Die heißbegehrte Lady mit maskuliner Ausstrahlung begeistert unsere Sinne, bringt uns in die Achtsamkeit und Unmittelbarkeit und lässt uns mit Gänsehaut Demut durchleben.

Am liebsten hätte ich meine Reise beim Riesen-Bärenklau beendet und dort mein Lager für eine Weile aufgeschlagen. Doch der Ruf des Nordens war stärker. So packte ich fixtiv eine gehörige Portion Bärenkraft für die anstrengende Weiterreise in den schon schweren Rucksack und nahm einen kleinen imaginären Schluck aus dem Schierlingsbecher, der meine Intuition und Feinsinnigkeit unterstützen durfte, um mit den unsichtbaren Wesenheiten der unberührten schwedischen Natur in Kontakt zu treten.

Wenn der Mensch nur wollte, könnte er alles Lebensnotwendige von unseren Pflanzennaturen lernen. Und vor allem von den gemeinhin als giftig Geltenden. Als ginge es in dieser Welt nur um unser Wohl. Als wären die Pflanzen da, um genau uns zu schaden. Ganz ehrlich, wie egozentrisch ist diese Sichtweise. Als hätten die Pflanzen nichts Besseres zu tun.

Der kurzsichtige Versuch, Pflanzen zu vernichten oder gar auszurotten, weil sie uns armen Menschen eventuell gefährlich werden könnten (dass wir mit einem Knopfdruck bereits die ganze Erde in die Luft jagen könnten, tut hier nichts zur Sache) ist kontraproduktiv und ein Schuss nach hinten. Es ist wie die (der Pharmaindustrie viel Geld einbringende) Aktion einen Schmerz mit einem Schmerzmittel betäuben zu wollen. Er wird wieder kommen. Stärker und vehementer als zuvor. Vielleicht auch in einem anderem Kleid. Solange, bis wir uns mit dem Symptom Schmerz auseinandersetzen. Bis wir ihm unsere Aufmerksamkeit widmen und ihn fragen, warum er eigentlich da ist. Wenn wir dafür bereit sind, wird er uns den Grund seiner Existenz mitteilen.

Fragen wir doch auch die Pflanzen, die uns fremd und unheimlich geworden sind, warum sie da sind. Schenken wir ihnen Gehör und vor allem unseren Segen und unsere bedingungslose Liebe. Überschreiten wir die von uns gesetzten Grenzen der Angst und Übervorsichtigkeit, um ihnen wieder näher zu kommen. Geben wir unseren Kontrollzwang auf und uns gegenseitig damit die Chance, uns wieder kennen zu lernen und zu vertrauen. Erst dann ist Frieden möglich.

In diesem Sinne wünschen wir uns allen ein friedvolles Miteinander und viele berührende Begegnungen auf allen Ebenen!

Sandra & Wilfried

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